4. Advent
Es waren nur ein paar Milliliter, die der kleine Knopf trinken konnte. Doch Eva schien zufrieden. Caroline hatte schweigend zugesehen, während Eva und Matze sprachen. “Kicsi, Kicsi… Edés…”, sprach Eva zwischendurch immer wieder den Welpen an und flüsterte ihm noch anderes zu. Am Tonfall konnte man erkennen, dass sie ihn ermunterte. Dann drehte sie den Kleinen auf den Rücken und massierte vorsichtig das Bäuchlein. Sofort begann der Hund seine Notdurft zu verrichten. So etwas hatte Caroline noch nie gesehen.
Ihr erstaunter Blick war wohl eindeutig, denn Eva erklärte und Matze übersetzte für sie.
“Er ist noch zu klein. Normalerweise massieren die Mütter beim Abschlecken den Darm, damit alles funktioniert. Jetzt muss das eben der Mensch machen.”
“Das hab ich nicht gewusst”, antwortete Caroline.
“Er ist noch keinen Monat alt. Eva sagt, er hat eine Chance. Du hast ihm diese Chance geschenkt. Gut gemacht, Caroline.” Matze lächelte. Die Bedrohung, die Caroline noch in der Gaststätte empfunden hatte, war verflogen. Ein Mann wie ein Bär, tätowiert soweit man sehen konnte, mit einem großen Herz für den kleinen Hund. Caroline lächelte zurück.
“Was wird aus ihm?”, wollte sie wissen.
“Hm, das weiß wohl niemand genau. Wenn er überlebt und alt genug ist, wird er ins Tierheim kommen. Eva betreibt ein Tierheim hier. Vielleicht finden sich nette Menschen, die ihn aufnehmen. Aber das ist jetzt erstmal unwichtig. Jetzt erzähl du erstmal. Was tust du mit einem Welpen in der Jacke in Tatabánya?”
Eva ging in die Küche und legte den Welpen unter die wärmende Lampe, hantierte mit dem Fläschchen und in den Schränken. Caroline war so glücklich darüber, dass der Kleine versorgt war, dass sie ihre eigenen Probleme für einen Moment vergessen hatte.
Eva schwieg, ganz entgegen dem, was Caroline bis jetzt von ihr kennen gelernt hatte. Sie stellte Weißbrot und Käse auf den Esstisch und brühte Kaffee. Dann deutete sie Caroline und Matze, sich zu setzen. Als alle Platz genommen hatten und Matze und Eva aßen, begann Caroline zu erzählen.
Sie erzählte wie sie nach Ungarn gekommen war. Von einem Date, das auf einer Tankstelle an der Autobahn abrupt endete, dem Plastiksack und ihrem Fußmarsch nach Tatabánya. Sie begann zu weinen, während sie redete.
Matze übersetzte dann für Eva. Eva rutschte mit ihrem Stuhl ganz nah an Caroline heran, nahm sie in den Arm.
“Ich muss wirklich zur Polizei und mich da melden”, schniefte sie, als sie fertig war mit ihrer Erzählung.
“Ja, das denke ich auch. Aber erst morgen. Ich schlage vor, ich rufe jetzt die Polizei an, damit sie wissen, dass du nicht mehr an der Tanke rumirrst. Okay?”
Matze und Eva sprachen sich ab. Eva reichte Caroline das Brot und deutete ihr an, etwas zu essen. Caroline war dankbar für die Fürsorge und stellte fest, dass das ungarische Brot vorzüglich schmeckte.
Matze suchte im Handy nach der Telefonnummer der Budapester Polizei. “Ich muss aber ja noch zurück ins Hotel”, murmelte Caroline zwischen zwei Bissen.
Matze winkte nur ab während er versuchte, Anschluss zur Wache zu bekommen. Als die Verbindung stand ging er im Raum auf und ab, während er sprach. Eva ging immer mal wieder in die Küche, sah nach dem Welpen und brachte frischen Kaffee. Aufmunternd lächelte sie Caroline öfter mal zu.
Nachdem das Telefonat beendet war setzte Matze sich wieder. “Alles gut. Sie hatten dich tatsächlich schon auf der Vermissten-Liste. Und sie geben auch im Hotel bescheid. Dort checkst du morgen aus. Ich lege das Zimmer für dich aus, damit du nicht Teller waschen musst über Weihnachten.” Unverschämt und breit grinste Matze Caroline an.
“Sehr witzig.” Caroline war nicht zum Spaßen zumute.”Mein Flieger geht erst in vier Tagen. Und ich habe noch nicht umgebucht. Wo soll ich deiner Meinung nach dann wohnen?”
“Na, hier!”, Matze lachte, “oder willst du dein Baby alleine zurück lassen? Eva hat das vorgeschlagen und du kannst heute Nacht erstmal hier bleiben. Morgen sehen wir dann weiter.” Eva umarmte sie wieder herzlich. Dann nahm sie Caroline an der Hand und zog sie in die Küche zu dem kleinen Kerl unter der Lampe. Sie redete ungarisch, Caroline verstand kein Wort.
Matze rief dann von weitem: “Du sollst ihm einen Namen geben. Deinem Baby.” Zärtlich streichelte Caroline mit dem Finger über das schwarze Fell. “Es ist ein Rüde, habe ich gesehen. Ich denke er soll Niko heißen.”
“Ah, Niko! Okay!”, strahlte Eva. Dann bereitete sie wieder ein Fläschchen vor während Caroline den kleinen Niko liebkoste. Eva sprach mit Matze viele ungarische Wörter, bis Matze fragte:
” Was arbeitest du, will Eva wissen?”
“Ich? Ich bin Krankenschwester im Urlaub.”
“Prima, sowas kann Eva bestimmt gut brauchen.” Matze war begeistert und wiederholte die frohe Botschaft ebenso begeistert auf ungarisch.
Anerkennend nickte Eva und sagte immer wieder:” Super, Super!” Caroline konnte sich schwer von Nikos Anblick losreißen. Doch sie räumte dann gemeinsam mit Matze den Tisch ab, bevor sie sich zwischen drei Hunde aufs Sofa setzte. Die Hunde rutschten dicht an sie heran und Caroline streichelte das weiche Fell.
Eva kam mit Niko dazu, um ihm wieder etwas zu trinken anzubieten. Niko war ein Kämpfer, denn er nahm die angebotene Welpenmilch gierig an. Zufrieden nickte Eva. Es würde noch ein wenig dauern, bis der Kleine wieder ganz auf den Pfoten war, aber die Chancen stiegen mit jedem Schluck, den er zu sich nahm.
Matze und Eva redeten ungarisch und Caroline wurde sehr müde. Was für ein Tag. Die Erlebnisse eines Tages reichten aus, um ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Doch sie hatte es geschafft. Der kleine Niko war in Sicherheit.
Dafür hatte sich jede einzelne Minute gelohnt. Als das ungarische Gespräch beendet war, nahm Eva neben Caroline Platz. Sie legte Nico auf den Rücken und reichte ihn Caroline. Dann zeigte sie ihr, wie man das winzige Bäuchlein mit kreisenden Bewegungen in Schwung brachte. Caroline verstand sehr schnell und es dauerte nicht lange, bis Niko sich auf dem untergelegten Handtuch entleerte. Alle freuten sich über die funktionierenden Reflexe.
Caroline betrachtete den kleinen Überlebenskünstler zärtlich und verstand einmal mehr nicht, wie herzlos manche Menschen sein konnten. Nachdem Niko versorgt war verabschiedete Matze sich. Er würde morgen früh wiederkommen.
Eva brachte Caroline eine Decke, die sie dankbar annahm. In der gemütlichen Sofaecke unter der Decke kuschelte sich ein kleinerer Hund an. Caroline wurde sehr müde und auch Eva deutete ihr, dass sie sich nun ins Bett zurückziehen würde.
Die Nacht war mehrfach unterbrochen von den Geräuschen, die aus der Küche kamen, wenn Eva ein Fläschchen machte und Niko etwas zu trinken anbot. Caroline konnte die Augen nicht aufhalten und schlief, trotzdem Niko versorgt wurde immer, wieder ein.
Der Tag begann für Caroline ebenso müde wie er geendet hatte. Es war noch nicht einmal sechs Uhr früh, als sie wach wurde, weil Eva laut telefonierte. Sie trug Niko dicht an ihrem Körper. Caroline war schlagartig wach, als sie das besorgte Gesicht Evas sah. Nachdem Eva das Telefonat beendet hatte, redete sie weiter ungarisch auf Caroline ein. Sie verstand kein Wort, aber das unberührte Fläschchen auf dem Tisch und der matte Körper Nikos sprachen eine eindeutige Sprache. Eva gab Niko vorsichtig in Carolines Hände und verschwand in einen Raum.
Der kleine schwarze Körper war kalt und atmete schwer. Zu schwer. Der Rippenbogen weitete sich aus und das kleine Bäuchlein schien aufgebläht. Caroline hielt seinen Kopf höher, damit er besser Luft bekam. Doch das starke Pumpen seiner Zwerchfellmuskulatur verriet, wie schwer Niko kämpfte. Caroline flüsterte Niko zu, immer wieder sagte sie ihm: “Niko, bitte! Nicht aufgeben. Wir haben es doch geschafft. Du darfst jetzt nicht sterben. Kämpfe kleiner Mann, kämpfe!”
Eva kam vollständig bekleidet aus ihrem Zimmer und lächelte Caroline unglücklich an. Plötzlich begannen die Hunde zu bellen. Mit einem irrsinnigen Getöse war es mit der Ruhe vorbei. Viele Pfoten setzen sich in Bewegung und rannten zur Tür. Eva folgte ihnen und ließ einen Mann herein, der sich nicht von der bellenden Meute beeindrucken ließ. Der Mann trug eine Tasche bei sich und Eva redetete laut auf ihn ein, während er unbeirrt auf Caroline zuging.
“Good morning”, sagte er und Caroline reichte ihm Niko. Sofort ging er mit dem Welpen in die Küche, wo Niko ausgiebig untersucht wurde. Caroline ging zögernd hinterher. Sie beobachtete das Geschehen und brauchte allen Mut, um sich dazuzustellen. Sie war Krankenschwester. Sie hatte täglich mit Menschen zu tun, die untersucht wurden und auch sehr krank waren. Aber dieses kleine Wesen hier berührte Caroline auf eine ganz besondere Weise. Sie hatte Angst um Niko und versprach ihm in diesem Moment, dass sie für immer zusammenbleiben würden.
Leise redete der Tierarzt mit Eva. Die Minen verhießen nichts Gutes. Blicke wurden getauscht. Niko bekam eine Spritze. Er schrie, als die Nadel seinen Muskel traf. Caroline liefen die Tränen über das Gesicht. Immer noch pumpte Niko entsetzlich. Sein Körper hob und senkte sich überdimensional für Carolines Emfinden.
Nachdem der Kleine versorgt war, gab Eva ihn in Carolines Obhut. Caroline hielt ihn zärtlich und nah an ihrem Körper, immer bemüht ihm die Atmung zu erleichtern. Sie setze sich wieder auf das Sofa und streichelte ihn leicht mit dem Finger. Eva und der Tierarzt redeten in der Küche weiter, während Kaffee gekocht wurde. Dann setze sich der Tierarzt zu Caroline.
“There is only a little chance for him.” Bedauernd sah er Caroline ins Gesicht. Caroline begann wieder zu weinen. “Why, what happend?”, fragte sie nach. “He is very weak. He has pneunomia. It´s hard for him and you, but we´ve done for him what we could.”
Eva brachte den Kaffee und ein betretendes Schweigen breitete sich aus. Der kleine Körper atmete nun flacher, aber die Atemzüge wurden weniger. Caroline bemerkte es sofort. “Bitte Niko, bitte,” flehte sie, “verlass mich jetzt nicht.” Ganz zart hielt sie den Welpen an sich gedrückt und weinte leise, während das Leben aus dem kleinen Körper wich. Eva setzte sich neben sie und der Tierarzt legte ihr tröstend die Hand auf den Oberarm, mit dem sie Niko festhielt.
Das Telefon klingelte durchdringend und als Eva sprach, war der Raum schnell erfüllt von ungarischen Wörtern. Der Tierarzt horchte ebenfalls auf und Eva erklärte ihm kurz, was passiert sein musste, während sie die nächste Nummer anrief und dann wieder ins Telefon sprach.
“The next problem”, erklärte der Tierarzt Caroline und wandte sich dem Becher Kaffee zu. Es war nur ein kurzes Gespräch, das Eva geführt hatte. Umso länger redete sie nun mit dem Tierarzt, während Caroline weiter den toten Niko in ihren Armen hielt und ihn streichelte.
Nur einige Minuten später bellten die Hunde erneut, liefen zur Tür. Matze trat ein und Eva und der Tierarzt machten sich auf zu gehen. Sie redeten kurz miteinander und dann war sie alleine mit Matze und Niko. Matze setze sich zu ihr. Er sah noch sehr verschlafen aus.
“Eva hat mich angerufen und mich gebeten zu kommen. Sie musste los. Es ist wieder ein Hund gefunden worden”, erklärte er kurz. Dann streichelte er das Fell Nikos und sagte aufrichtig “Es tut mir leid.”
Caroline weinte und Matze nahm sie in den Arm. “Komm mal her”, sagte er und hielt Caroline fest.
Nachdem Caroline sich etwas gefangen hatte, ließ er sie los.
“Tut mir leid”, schluchzte sie leise.
Matze lächelte ihr zu. “Ich kann dich gut verstehen und ich hab’ so gehofft, dass der Kleine es schafft.”
“Ja, ich weiß.” Caroline versuchte ein freundliches Lächeln. Dann stand sie auf und brachte Niko zurück in die Küche. Vorsichtig legte sie den Welpen in das Körbchen, deckte seinen Körper mit einem Stück Decke zu, als würde er schlafen. Matze drückte den Ausschalter der Rotlichtlampe und legte seinen Arm um sie, während sie Niko betrachteten.
“Ihm tut jetzt nichts mehr weh”, sagte er leise.
“Ja, und er ist frei. Endlich frei”, fügte Caroline hinzu.
Matze zog sie mit sich ins Wohnzimmer, holte dann einen Kaffee, den sie schweigend tranken.
“Und nun müssen wir los”, bemerkte er. “Wir fahren jetzt zur Polizei, die warten schon auf uns.” Caroline hatte wirklich gar keine Lust, aber Matze hatte recht. Sie musste sich jetzt endlich einmal um alles kümmern und auch Zuhause bescheid geben.
Der Gang zur Polizei war mit Matzes Hilfe nur halb so schlimm. Es gab allerdings nur wenige Hinweise, die sie über Máté geben konnte und wer weiß, ob das überhaupt sein richtiger Name war? Das einzige, was sie mit Sicherheit sagen konnte, war in welchem Chat sie ihn kennen gelernt hatte. Aber dort war er ja bei ihrer Ankunft schon nicht mehr aufrufbar gewesen. Die Polizisten notierten sich alle Hinweise und versprachen. sich zu melden, falls es Hinweise zu dem Gesuchten gäbe.
Mit Matzes Handy telefonierte sie nach Hause und bat dort darum, ihre EC- und Handy- Karte sofort sperren zu lassen. Das Rückticket war zum Glück im Hotelzimmer und die Kosten für das Zimmer wurden ebenfalls von Deutschland aus gezahlt werden können.
Caroline empfand das alles plötzlich so unwichtig. Es spielte plötzlich nur noch eine untergeordnete Rolle und der Schmerz, den sie empfunden hatte, als Màtè sie stehen ließ, war verblasst. Was bedeutete das alles schon im Gegensatz zu dem, was sie heute früh erleben musste.
Es war fast Mittag, als sie ihre Sachen aus dem Hotel brachte und in Matzes Auto verstaute. Matze war wirklich sehr nett zu ihr gewesen und sie konnte ihn jetzt nicht einmal die ganzen Auslagen für die Fahrerei erstatten. Während sie Budapest verließen klingelt Matzes Handy und nach dem Telefonat schaute er Caroline an.
“Wir werden schon sehnsüchtig erwartet.”
“Von wem?”
“Eva. Sie fragt wann wir wieder in Tatabánya sind. Du wirst scheinbar gebraucht.” Matze grinste sie wieder breit an, bevor er Gas gab und auf ungarische Art über die Autobahn raste.
In Tatabánya fuhr Matze direkt ins Tierheim. Caroline hatte bisher so ein Tierheim noch nie betreten. Eine Schar von Hunde lief im Innenhof, Mitarbeiter in warmer Arbeitskluft und Gummistiefeln liefen beschäftigt über den Hof.
Hunde in jeder Größe und Farbe begrüßten Caroline und Matze freundlich und rannten dann wieder gemeinsam im Areal. Sie spielten miteinander. Eva kam auf die Ankömmlinge zu, begrüßte Matze, streichelte Caroline mitfühlend über die Wange und fragte:
“Ok?” Caroline nickte. Was hätte sie sonst tun sollen? Dann zog Eva Matze mit sich und Caroline sah sich näher um. Sie ging auf das eine Gebäude zu, das noch nicht ganz fertig aussah. Es waren Hundestimmen zu hören, doch ein Zaun hinderte sie, dort rein zu kommen.
Daher betrat sie das ältere Gebäude. Dort roch es seltsam und Caroline ging dem Geruch nach. Eine Frau stand an einem riesigen Topf, der auf einem offenen Feuer stand und rührte darin. Das was da gekocht wurde, hatte den Geruch verbreitet.
In dem Raum standen noch Boxen, in denen Hunde saßen. Welpen, kleinere Hunde und ein großer Hund, die das Rühren wie einen spannenden Krimi beobachteten. Sofort wedelte es in der Box, die Caroline näher betrachtete und die Welpen begann zu jammern. Sie wollten raus. Caroline hielt ihre Hand an das Gitter und aufgeregt leckten und knabberten die Welpen an ihr.
Caroline lächelte die Frau an und ging dann wieder in den Hof. Sie atmete tief durch. Ihr war übel. Sie konnte aber nicht sagen, ob der Gestank des Topfes oder das Schicksal der Hunde der Grund dafür waren.
Im Hof liefen nun andere Hunde. Caroline wurde angesprungen und angebettelt. Sie bettelten um ihre Hand, drängten sich an ihre Beine oder legte sich auf den Rücken, um gestreichelt zu werden.
Matze fand Caroline inmitten von fünf Hunden. “Kommst du?”, lud er sie ein. Er führte Caroline zurück in das alte Gebäude und ging vorweg. Vor einer Tür stand eine mit Flüssigkeit gefüllte flache Schale auf dem Fußboden, eine große Flasche Desinfektionsmittel war ebenfalls zur Benutzung bereit.
Matze trat mit den Schuhen in die Fußschale, desinfizierte sich die Hände und ging dann erst durch die Tür. Caroline machte es ihm nach und dann folgte sie ihm in das fast fertig aussehende neue Gebäude. Sie standen in einem Behandlungszimmer. Eine kleine Wanne für medizinische Bäder, einige Boxen, Schränke mit Verbandmaterial und ein metallener Tisch standen darin. “Was ist los?”, fragte Caroline. Matze lehnte sich gegen den Tisch.
“Eva hat uns gerufen, um dir was zu zeigen und um deine Hilfe zu bitten. Es sind wieder Welpen gefunden worden. Zwei von ihnen sind verletzt, haben eine Fleischwunde. Du könntest dich nützlich machen.”
“Ich weiß nicht.”
“Was weißt du nicht? Ob du helfen kannst?”
“Ich weiß nicht. ob ich es nochmal ertrage, wenn das wieder wie mit Niko passiert.”
Matze schwieg einen Moment bevor er antwortete.
“Ich verstehe dich, alle hier tun das. Aber vielleicht wird genau das geschehen, wenn du dich jetzt nicht überwindest und hilfst. Die Kleinen brauchen Hilfe. Und du kannst helfen. Außerdem hat die Polizei mich angeklingelt. Es kommt gleich auch noch ein Beamter, der einige Fragen hat. Hierher. Also wir bleiben sowieso da. Du hast also keine Wahl.”
Das breite Grinsen von Matze war einfach unschlagbar. Caroline musste lachen. Er war frech und er hatte natürlich recht.
“Ja gut, dann zeig her. Wo ist eigentlich Eva?”
“Das ist ja das Problem. Sie ist schon wieder zum nächsten Notfall unterwegs und die Welpen müssen versorgt werden. Darum hab ich dich ja gefragt.”
Matze ging voraus, öffnete die nächste Tür und stand mitten in dem neuen Trakt, der an einigen Stellen noch nach Baustelle aussah. Caroline ging den Gang entlang. Vorbei an kleinen, bunt gefliesten Buchten, in denen sich lautstark Welpen an das Gitter drängten und protestierten. Die letzte Gittertür öffnete Matze und ging hinein.
Er reichte Caroline vorsichtig einen Welpen herüber und nahm selber in jede Hand einen Hund. Dann gingen sie zurück ins Behandlungszimmer. Matze setzte seine beiden Welpen in einer Box ab. Der kleine Kopf des Hundes, den Caroline auf dem Tisch absetzte, hing nach unten. Sein Rücken war rund nach oben gebogen. Caroline tastete jede Rippe. Der Hund war sehr mager und die Augen hatten einen traurigen Ausdruck.
Geschickt fühlte Caroline den Welpen ab. Sie fand nur eine kleinere Fleischwunde im Schulterbereich. “Was haben wir zum Reinigen?”, fragte sie Matze. Matze öffnete einen der Schränke, stellte ihr dann eine große grüne Flasche auf den Tisch.
“Such nochmal nach sterilen Kompressen, bitte.” Matze gehorchte und Caroline machte sich daran, die Wunde im Fell so gut es ging freizulegen. Dann tränkte sie großzügig einige Kompressen mit der Lösung und trug sie auf die Wunde auf. Caroline erkundigte sich, was der Tierarzt zu den Neuankömmlingen gesagt hatte und Matze grinste. Er schwieg für einen Moment und Caroline sah zu ihm auf. “Was ist?”, wollte sie wissen. “Ich genieße dich bei der Arbeit.” Das Grinsen blieb.
“Der Tierarzt hat sie schon gesehen und behandelt. Es war nur keine Zeit für die Wundversorgung. Denn er musste los und Eva wurde schon wieder zu einem Nothund gerufen. Da warst du unsere Rettung.”
Caroline behandelte einen Welpen nach dem anderen gewissenhaft. “Ich werde diesen hier später noch einmal ansehen und die Wunden nochmal sauber machen”, nickte sie entschlossen zu ihren Worten. Gemeinsam brachten sie die Welpen zurück ins Welpenhaus. Caroline hockte sich an ein anderes Gitter, wo die Hunde sich lautstark bemerkbar machten. Sie bettelten um Aufmerksamkeit. Sie versuchten, die kleinen Nasen durch das Gitter zu stecken, die Ruten wedelten aufgeregt hin und her. Matze lehnte sich an die Außenwand und beobachtete sie. Caroline wandte sich dann dem nächsten Zwinger zu. Wieder wurde sie mit großem Hallo begrüßt und es zerriss ihr das Herz. “Wenigstens seid ihr nicht in einem Plastiksack auf dem Acker”, flüsterte sie ihnen zu. “Alles wird gut, ihr Süßen.” Als sie sich erhob, um zu gehen, und einen letzen Blick in die Bucht warf, sah sie einen schwarzen Welpen, der abseits in der Ecke schüchtern die anderen beobachtete.
“Was ist mit dem dahinten denn?” Matze trat heran. “Warte, wir gucken mal.” Matze öffnete das Gitter und ging vorsichtig zwischen den tanzenden Hunden zu dem eingeschüchterten Welpen, um ihn mit hinaus zu nehmen.
Im Behandlungszimmer untersuchte Caroline den Hund. Es war keine Verletzung festzustellen. Aber er wirkte überhaupt nicht fröhlich wie die anderen aus dem Zwinger. “Was fehlt dir denn, kleiner Mann?” Caroline sprach zärtlich mit dem kleinen Rüden als die Tür sich öffnete und eine Mitarbeiterin Matze etwas zurief.
“Der Polizist ist da, wir müssen gehen. Und Kitti hat gesagt, dass dieser Welpe nicht zu dem restlichen Wurf gehört. Er wurde alleine gefunden. Die anderen mobben ihn ein wenig. Deshalb ist er so eingeschüchtert.”
“Wie traurig. Kann ich ihn mitnehmen zum Gespräch?”
“Nein, lieber nicht.” ”
Aber er tut mir so leid. Und schau mal, er sieht fast aus wie Niko.” Caroline wurde traurig. Matze nickte verstehend brachte den Kleinen zurück in seinen Zwinger. Die anderen Welpen waren ungestüm und wild. Der kleine Schwarze zog sich sofort wieder in die hinterste Ecke zurück, wo Caroline ihn zufällig entdeckt hatte. Sofort kam ein größerer Brauner und wies ihn zurecht. Es zerriss Caroline das Herz, mit anzusehen, wie unglücklich und alleine der Hund da saß.
Der Polizist wartete bereits auf Caroline. Als er sich zu ihr umdrehte und ihr die Hand reichte, sagte er in perfektem Deutsch: “Guten Tag.” Caroline erwiderte überrascht den Gruß. Irgendwie kam er ihr bekannt vor.
“Das ist ja ein Ding, das wir uns hier wiedertreffen”, fuhr er fort. Caroline fielen die strahlend blauen Augen auf. Diese Augen hatte sie schon einmal gesehen. Im Flughafen.
“Ja, das ist echt ein Ding”, antwortete sie freundlich. Der Polizist erklärte, dass er seit fünf Jahre in Ungarn lebte und mit einer Ungarin verheiratet sei. Und immer, wenn irgendwo ein deutschsprachiges Problem auftauchte, müsse er sich darum kümmern. Caroline war froh darüber, dass keine Sprachbarriere bestand und erzählte nochmal alles in Kürze.
Der Blauäugige erzählte daraufhin, dass inzwischen im Internet nach Màtè recherchiert und gesucht wurde und dass sie mit Hilfe von Computerexperten bereits eine Spur hatten. Dann bat er Caroline, mit zu seinem Auto zu kommen. Er öffnete den Kofferraum in der Carolines Handtasche lag. Die Tasche war auf einem Parkplatz in Richtung Budapest gefunden worden. Caroline untersuchte den Inhalt und nannte das fehlende Handy. Ihr Portemonaie mit den Papieren hatte Màté zum Glück nicht herausgenommen. Nur das Geld fehlte. Caroline unterschrieb den Empfang ihrer Tasche und der Beamte verabschiedete sich mit dem Versprechen, sie auf dem Laufenden zu halten.
Matze wartete im Eingangsbereich des Tierheims. Er hatte sich hingehockt und ein bunter Hund drückte sich eng an ihn, um gestreichelt zu werden.
“Alles ok?”, fragte er.
“Ja, ja. Alles gut. sollen wir nochmal nach dem Welpen mit der großen Schnittwunde sehen?”
“Können wir.”
Nachdem Matze den Hund nach erneuter Versorgung zurückbrachte, ging Caroline zu den kleinen Bucht, in dem der Schwarze saß. Er saß mit dem Kopf zur Wand. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht. Wie unglücklich er war. Matze stellte sich neben sie, legte freundschaftlich ihren Arm um sie.
“Nicht alle Geschichten gehen gut aus”, sagte er.
“Ich weiß. Das hast du mir heute morgen schon gesagt, aber es erscheint mir so ungerecht. Und es muss doch auch Geschichten geben, die gut ausgehen.”
“Die gibt es bestimmt.”
“Auch für ihn?” Caroline sah Matze an.
“Ich weiß es nicht”, antwortete er wahrheitsgemäß.
Es dämmerte schon als Eva eintraf. Laut gestikulierend redete sie im gewohnten ungarischen Schwall. Caroline nahm an wegen der Welpen und der Versorgung, die sie gemacht hatte.
“Köszi, Köszi”, sagte Eva und nahm Caroline in den Arm.
Caroline bat Matze, nach dem Schwarzen zu fragen.
“Der kleine ist schon vier Wochen hier. Er wurde morgens in der Welpenklappe gefunden. Die anderen saßen im Karton auf der Autobahn. Eva weiß, dass es nicht so gut läuft zwischen allen, aber sie hat keinen Patz. Die Alternative wäre eine Box. Das ist auch schlecht.”
“Stimmt”, nickte Caroline. Eva redetet wieder und Matze antwortete.
“Sie sagt, er ist alt genug, um vermittelt zu werden. Aber leider zeigt er sich nicht aufgeschlossen wenn Interessenten kommen.”
“Wie denn auch?”, Caroline war völlig klar, dass die Menschen, die hier herkamen, um einen Hund zu adoptieren sich lieber für die fröhlichen und lustig wedelnden entschieden.
“Kann ich ihn mitnehmen?”, fragte sie Eva. “Er wird Nikos Platz einnehmen in meinem Leben.” Caroline war fest entschlossen. Diese Geschichte sollte gut ausgehen, wenigstens diese!
“Wie mitnehmen? Wohin, wie meinst du das? Mit zu Eva oder nach Deutschland?” Matze wollte es ganz genau wissen.
“Beides. Ich muss ihn mitnehmen, am besten jetzt.” Matze übersetzte und Eva stimmte zu. Caroline war überglücklich, als sie den Schwarzen im Arm hielt. Er rührte sich nicht vor Unsicherheit, doch sie wusste, dass sie das Richtige tat. “Mein kleiner Käfer, jetzt wird alles gut”, flüsterte sie ihm zärtlich zu. Matze lachte.
“Das heißt auf ungarisch kis bogár. Nun hat das Kind schon einen Namen.”
Die Mitarbeiter verließen das Tierheim, sie hatten Feierabend. Eva und Matze redeten ununterbrochen, während Eva das Licht löschte und die Türen abschloss. Matze lud Caroline ein, mit ihm zu fahren. Sie würden Eva beim Abendessen in Matzes Lokal wiedersehen. Caroline hatte Kis Bogár in ihrer Jacke untergebracht und sie fühlte seine Wärme.
“Fahren wir morgen wieder hin?”, fragte sie Matze. “Ich möchte nochmal nach den Welpen mit der Schnittwunde sehen.” Matze grinste überdimensional breit.
“Wir?” Caroline lachte ihn an.
“Ja, wir. Oder ich. Falls du nicht mitkommen willst. Aber ich möchte gern helfen. Es hat gut getan. Konnte ich Niko auch nicht helfen, so sind da noch so viele, so unendlich viele, denen ich helfen kann. Danke Matze.”
“Gerne. Und ich bring dich natürlich wieder da hin morgen. Kein Problem. Doch was tun wir nur ohne dich nach Weihnachten.” Nun war es Caroline, die breit grinste.
“Ach, ihr seid vorher auch zurecht gekommen. Und dann, wer weiß, sehen wir uns vielleicht wieder?”
“Das hoffe ich doch! Und natürlich Kis Bogár!”
“Ja, auch meinen Bogár. Du, Matze. Ich kann Eva gerade gar nicht das Geld für den Kleinen geben. Ob du ihr ausrichtest, dass ich das von Deutschland aus regel?”
“Kein Problem, Eva weiß ja um deine Armut. Mach dir keine Gedanken.”
“Danke Matze, danke für alles! Und in dem ganzen Trubel weiß ich gar nicht, was du hier in Ungarn machst? Und wieso hast du ein ungarisches Lokal? Woher kommst du?”
Matze lenkte den Wagen sicher durch den ungarischen Verkehr, grinste sie breit an und sagte:
“Das, meine liebe Caroline, ist eine andere Geschichte.”